Sünde 5 - Lüge

Eine fromme Lüge mag noch angehen, wenn man in guter Absicht täuscht, damit der andere nicht verletzt wird. Doch wenn jemand um Wahrheit bittet, gerät dieser fromme Betrug, die »pia fraus« (Ovid), zur Sünde. Eine wirkliche Todsünde wird daraus, wenn der belogene Partner unter der vermeintlich guten Absicht unsagbar leidet.

»Er nannte mich Königin seines Herzens«

Berlin: Sibylle (32) enttarnt die Lügen von Bernd (48).

Wir kennen uns schon lange. Er ist meine große Liebe und mein Schicksal zugleich. Mit Schicksal meine ich, dass ich schicksalhaft mit ihm verbunden bin. Ich komme einfach nicht weg von ihm. Denn leider ist mein Freund mit einer anderen Frau verheiratet. Ich bin also eine sogenannte Geliebte. Dass er verheiratet ist, wusste ich von Anfang an. »Meine Frau und ich leben wie Schwester und Bruder zusammen«, hat er mir gesagt. – »Nun gut«, dachte ich damals, »mit einer Schwester hat man keinen Sex, und man kann ihr alles erzählen. Klingt doch gar nicht so schlecht.« Und dann gingen wir miteinander ins Bett. Damals war ich 20.

Zieh deinen Schlüpfer aus und reib dich

Der Männer in meinem Alter war ich damals so überdrüssig. Alle waren sie dauernd auf der Suche nach irgendetwas. Jede Erfahrung wollten sie mitnehmen. Und als Frau konnte man immer nur so tun, als sei man überhaupt nicht an einer festen Bindung interessiert, als sei alles ganz okay so. Aber in Wahrheit habe ich mich schon nach einem verlässlichen Freund gesehnt. Und dann lernte ich Bernd kennen. Er ist Geschäftsführer einer Softwarefirma und lebt in einem Vorort von Berlin. An dem besagten Tag saßen wir beide im selben Biergarten nebeneinander. Ich feierte mit meinen Kommilitonen das Semesterende. Und er trank dort mit einem Kollegen noch ein Feierabendbier. Er sprach mich an, und so entwickelte sich zwischen mir und den beiden Männern eine Unterhaltung. Nach und nach gingen alle anderen, Bernd und ich blieben übrig. Anfangs erschien er mir ein bisschen glatt und auch eingebildet zu sein. Aber er konnte mich so geschickt in ein Gespräch verwickeln, dass er mir im Laufe des Abends immer besser gefiel. Als wir uns verabschiedeten, küsste er mich.

Er ist ein toller Mann, aber es ist nicht leicht, eine Geliebte zu sein. Seine Ehe wollte er wegen seiner kleinen Tochter nicht aufgeben. Was soll ich sagen, alle Feiertage, die meisten Wochenenden und alle Ferien waren für seine Familie reserviert. Doch er hat mir immer gesagt: »Du bist die Königin meines Herzens. Du bist meine wahre Frau. Denn du bist diejenige, die ich über alles liebe.« Er hat mir das so oft gesagt und mich dabei so verliebt angeschaut, dass ich ihm einfach glauben musste.

Unser Sex war anfangs nicht außergewöhnlich. Mal war er oben, mal ich; mal leckte er mich, mal blies ich ihm einen. Aber sonst waren wir nicht besonders einfallsreich. Das war auch nicht nötig, wir waren so verliebt ineinander, dass allein die pure Tatsache, Sex miteinander zu haben, zur absoluten Erfüllung führte. Doch fast durch einen Zufall fanden wir eines Tages eine neue Gemeinsamkeit. Zuerst hatten wir schlimm gestritten, da ich einen One-Night-Stand gehabt hatte, als er mit seiner Familie im Pfingsturlaub gewesen war. Das beichtete ich ihm am Telefon. Da war unsere Beziehung wirklich auf der Kippe. Er wollte unser nächstes Treffen absagen, aber ich beschwor ihn, dass ich nur ihn lieben würde und mit ihm zusammenbleiben wolle. Da passierte es. Er bat mich, den Sex mit dem anderen genau zu beschreiben. Während ich das machte, begann er leise zu stöhnen. Dann befahl er mir: »Zieh deinen Schlüpfer aus und reib dich. Und erzähl weiter. Wie sah sein Schwanz aus? Beschreib es mir genau. War die Eichel rot? Warst du feucht? Was für ein Gefühl war es, als er in dich eindrang? Erzähl es mir, jede Einzelheit. Ich will es wissen. Kamst du zum Orgasmus? Wie oft? In welcher Stellung? Hast du sein Sperma gespürt, als er abgespritzt hat? Ist es aus dir herausgelaufen?« Und so weiter.

Er war dabei, wenn ich die anderen kennenlernte und wenn ich sie vögelte

Irgendwann kamen wir beide zum Orgasmus. Und das war ein Wendepunkt in unserem Leben. Wir haben uns bei diesem Telefonat neu füreinander entschieden. Als wir uns das nächste Mal sahen, machten wir uns viele Versprechungen: Wir würden ein Leben lang zusammenbleiben. Wir würden keine Heimlichkeiten mehr haben, es sollte keine Untreue mehr geben. Wir wollten uns immer alles sagen. Es war beinahe ein Eheversprechen, das wir uns gaben. Von da an hätte ich meine Hände für ihn ins Feuer gelegt. Natürlich wusste ich, dass er seine Frau nach wie vor belog, was uns beide betraf. Aber mich belog er nicht, da war ich mir sicher. Besser gesagt, ich habe mich dafür entschieden, ihm zu glauben, egal was kommen würde. Denn Vertrauen ist ja nicht dann gefordert, wenn alles im Lot ist, sondern wenn eine Situation missverständlich ist. Oder wenn andere rumtratschen. In solchen Momenten muss man Partei ergreifen und entweder den Gerüchten Glauben schenken, oder eben dem, was der Partner sagt. Ich habe immer Bernd geglaubt.

Unser Sex wurde von Mal zu Mal besser. Wir malten uns immer mehr Fantasien aus, in denen ich mich auf andere Männer einließ. Das machte ihn an. Er hatte dann das Gefühl, mich immer wieder von Neuem zu erobern. In der Realität ließ ich mich nie mehr auf jemanden ein, aber unsere Geschichten kannten keine Grenzen. Mal war es ein Mann, mal waren es mehrere. Mal war es ein Fremder aus dem Restaurant, mal ein Bekannter, den ich schon länger attraktiv fand. In die Geschichten baute ich Bernd immer mit ein: Er war dabei, wenn ich die anderen kennenlernte und wenn ich sie vögelte. Solche Sachen erzählte ich ihm, während wir Sex miteinander hatten. Er wurde richtig abhängig von meinen Geschichten. Die besten Orgasmen hatte er, wenn ich ihm erzählte, wie schön und intensiv der Orgasmus mit einem anderen – imaginären – Mann war. Wir beide waren die Drehbuchautoren, die anderen Männer die Handlanger unserer Lust. Frauen tauchten übrigens nie auf. Wir haben es mal probiert, aber es stieß mich ab und machte auch Bernd nicht an. Er genoss es mehr, diesen leichten Schmerz auszuhalten, wenn er sich mich mit anderen Männern vorstellen musste, um dann doch als Sieger hervorzugehen.

Diese Geschichten schweißten uns zusammen. Es ging sogar so weit, dass ich ihm berichtete, wenn mir jemand auf der Straße gut gefiel. Dann nahmen wir diesen Mann als Vorlage für unsere geilen Bettfantasien. Mit diesen Erfahrungen wurde ich auch selbstbewusster. Ich bat ihn, aus dem ehelichen Schlafzimmer auszuziehen und auch mit seiner Ehefrau nicht mehr in Urlaub zu fahren. Wenn sie doch sowieso nur noch pro forma zusammen seien, müsse das doch möglich sein. Er versprach es mir. Und ich glaubte ihm. Auch weil ich ihm gegenüber so viel von mir preisgab, stand es für mich völlig außer Frage, dass er mir ebenso die Wahrheit erzählte wie ich ihm.

Es war wie in einem schlechten Film

Dann kam nach acht Jahren das böse Erwachen. Es fing mit unserem Geliebten-Handy an. Er hatte nämlich ein heimliches zweites Mobiltelefon, das auf meinen Namen lief. An dieses Handy schrieb ich ihm SMS, ohne dass er Angst haben musste, seine Frau könne sie lesen. Natürlich wurden die Rechnungen auch an meine Adresse geschickt und nicht an seine. Und so entdeckte ich, dass zu Silvester Anrufe aus Frankreich abgerechnet worden waren. Aber Bernd war doch angeblich zu Hause in Berlin gewesen, bei Frau und Kind. Darauf angesprochen, schaute er erstaunt und meinte, dass er sich das auch nicht erklären könne. Da sei er mitten in Deutschland gewesen und solle gleichzeitig in Frankreich gewesen sein? Das sei ja merkwürdig.

Nun gut, ich bat die Mobilfunkgesellschaft um Aufklärung, und die schrieb mir klipp und klar, dass kein Irrtum möglich sei und dass die Anrufe in Frankreich getätigt worden seien. Als Bernd das nächste Mal bei mir war und duschte, nahm ich sein Handy, übrigens zum allerersten Mal, und suchte in seinem Terminkalender nach dem Eintrag für Silvester. Und da hatte er doch tatsächlich den Namen und die Rufnummer eines Restaurants in Paris vermerkt. Ich war fassungslos. Es war wie in einem schlechten Film. Mein Bernd, den ich über alles liebte, dem ich vertraute wie sonst keinem anderen Menschen auf der Welt, hatte mich belogen.

Zuerst versuchte er tatsächlich noch einmal, sich rauszureden. Sein Freund hätte ihn angerufen und ihm eine gute Adresse für Paris genannt, dorthin wolle er einmal mit mir fahren. Schließlich aber gab er es zu: Er hatte über Silvester mit seiner Frau einen Kurzurlaub in Paris gemacht. Er hätte nicht gewollt, dass ich mich aufrege, deswegen hätte er es mir verheimlicht. Und ja, es stimme, sie hätten auch zusammen in einem Bett geschlafen. Für mich brach wirklich eine Welt zusammen.

Der Sex hat deutlich gelitten

Von dem Moment an ging alles bergab. Ich begann nachzudenken, was mir sonst noch alles komisch vorgekommen war, und deutete die früheren Situationen neu. Hier war einiges ungereimt, etwa die urplötzlichen häufigen Urlaube mit seinem Vater, seinen Cousinen, seiner Tante. Ich fragte herum und vergeudete unendlich viel Zeit und Energie damit, herauszufinden, ob alte Geschichten wirklich so gewesen waren, wie er sie erzählt hatte. Ich machte mich sogar an den Freund seiner Tochter heran und erfuhr, dass mein geliebter Bernd nicht nur dieses eine Mal mit seiner Frau zusammen weggefahren war, sondern viel häufiger.

Auf meiner verzweifelten Suche nach der Wahrheit besuchte ich eine Hellseherin, die mir meinen Freund zuerst erschreckend genau in seinem Äußeren und seiner Art beschrieb und auch von einer weiteren Geliebten wusste. Ob es stimmt, weiß ich bis heute nicht. Ein Jahr später kamen dann die Handyortungen auf. Nach langem Zaudern konnte ich nicht anders und nutzte sie gelegentlich. Dabei stellte ich fest, dass Bernd auch nach seinem Parisgeständnis nur selten dort war, wo er vorgab zu sein. Es war einfach unerträglich schmerzhaft. Ich weinte damals viel und war wirklich tief in meiner Seele erschüttert.

Eigentlich hatte sein Ausflug nach Paris dazu geführt, dass ich meinem Freund gar nichts mehr glauben konnte. Dies hatte auch Auswirkungen auf unseren Sex. – Ja, wir sind immer noch zusammen, ich liebe ihn immer noch. Aber der Sex hat deutlich gelitten. – Diese Erzählungen über andere Männer, die gemeinsamen Fantasien, die erfordern ja auch Vertrauen. Aber kann man Vertrauen zu einem Mann haben, der dauernd lügt? Zuerst verlor ich die Lust auf unsere Geschichten. Dann verlor ich die Lust auf meinen Freund. Zwar schlafen wir immer noch jedes Mal miteinander, wenn wir uns sehen. Er sieht nach wie vor attraktiv aus und riecht sexy. Aber ich habe einfach keine richtige Lust mehr. Ich ertappe mich immer häufiger bei dem Gedanken, dass es ja bald vorbei sein wird. Früher war es ganz anders, da konnte ich nicht genug von ihm kriegen.

Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich durch mein dauerndes Nachspionieren mein eigenes Lebensgefühl verliere und nur noch dafür lebe, herauszufinden, was er nun wohl gerade macht. Deswegen lasse ich das nun sein. Ich wünsche mir trotzdem so sehr, er würde einfach mal alles erzählen, die ganze Wahrheit und warum er das alles macht.

Oswalt Kolle ganz persönlich

»Dieser Mann wird mit seinen Lügen niemals aufhören«

Hier geht es im Wesentlichen um zwei Fragen. Nämlich: Wie viel Wahrheit verträgt der belogene Partner? Und: Wie viel Mut zum Risiko hat der lügende Partner? Sibylle möchte ihren Freund am liebsten für sich alleine haben. Ihr Wunsch ist natürlich legitim, doch die Realität sieht anders aus. Sie muss viele Facetten ihres Mannes mit einer anderen Frau teilen. Wie viel Eheleben noch stattfindet, wird Bernd ihr nicht so genau auf die Nase binden, das wäre untypisch für einen Mann. Ich vermute außerdem, er hat Angst, sie zu verletzen, wenn er ihr die ganze Wahrheit schonungslos offenbaren würde. Sicher hat er aber auch Angst, sein gewohntes Leben zu verlieren, wenn seine Geliebte plötzlich alles wüsste. Denn das ist dann vielleicht zu viel für sie, und es besteht die Gefahr, dass sie ihn verlässt. Das Gleiche würde vermutlich passieren, wenn seine Frau von der Geliebten erführe. Beides scheint Bernd nicht recht zu sein, und deshalb spielt er das doppelte Spiel.

Meine Prognose lautet: Dieser Mann wird mit seinen Lügen nie aufhören. »Ab 40 erstarrt die Seele in zu erwartenden Abläufen«, heißt es in der Psychotherapie. Bernd ist 48. Aus ihm wird nicht mehr völlig überraschend ein anderer Mensch werden, der mit einem Mal mutig und konsequent ist. Er wird so bleiben, wie er ist: »Lieber bekanntes Unglück als unbekanntes Glück« – auch ein gängiges Motto von Männern ab 40. Trotzdem aber ist er ein liebevoller Partner für seine Geliebte. Sibylle wird also nichts anderes übrig bleiben, als eine Bilanzierung vorzunehmen. Sehnt sie sich danach, dass die Beziehung mit ihrem Bernd weitergeht, trotz Lügen, Kränkung und Abwesenheit? Dann muss sie sich eine andere Einstellung zu seinem Verhalten zulegen, eine, die sie selbst weniger kränkt. Wenn sie das nicht will, bleibt ihr nur die Trennung.

Warum ist die Unwahrheit so verletzend, und was ist Wahrheit?

Menschen gehen in aller Regel davon aus, dass das, was der andere sagt, richtig ist. Denn es gibt eine Art Urvertrauen in die Sprache, oder wie der Hirnforscher Ernst Pöppel sagt: »Wahrheit ist ein in die Sprache eingebautes Prinzip. Die Lüge eine späte Erfindung.« Was der andere uns mitteilt, überprüfen wir deshalb nicht andauernd auf seinen Wahrheitsgehalt. Wenn wir zu Menschen, Situationen, Eigenschaften einmal eine Meinung gefasst haben, behalten wir diese definierte Identität über die Zeit hinweg bei. Dies gilt insbesondere für eine Beziehung. Hier ziehen wir mit der Sprache einen gemeinsamen Rahmen auf, in dem wir uns bewegen: Wir erzählen uns etwas, vertrauen uns Geheimnisse an und gewähren dem anderen Einblick in die eigene verletzliche Psyche. Es entsteht ein Rahmen des Vertrauens.

Die Lüge bedeutet ein Heraustreten aus dem gemeinsamen Rahmen. Deswegen ist die Lüge gerade in der Beziehung so verletzend. Das gilt auch für Sibylle und Bernd, denn es wurde absolute Ehrlichkeit vereinbart. Diesen gemeinsamen »Ehrlichkeitsrahmen« hat Bernd verlassen, und deshalb ist Sibylle so verletzt.

Oft ist der Lügner sich der Lüge nicht bewusst

Aber was geht in einem Menschen vor, wenn er durch Lügen einen Verrat in der Beziehung begeht? Sicher spielen auf der ersten Ebene Faktoren wie Unsicherheit, Feigheit und Angst vor Konsequenzen eine Rolle. Aber dahinter steht eine ganz andere Frage, nämlich: Was ist Realität? In unserem Weltbild ist die Realität streng danach definiert, was nach außen sichtbar und beweisbar ist. Der Mann, Bernd, der mit seiner Frau heimlich nach Paris fährt, ist in den Augen der betrogenen Sibylle ein Lügner. Dabei bleibt aber außer Acht, dass es nicht nur die äußere Realität gibt – also das, was man sehen und beweisen kann –, sondern dass jeder Mensch auch ein Innenleben hat, eine »innere Realität«. In seine innere Realität taucht zum Beispiel sehr intensiv ein, wer sich in Tagträumen verliert oder wer Liebeskummer hat und sich immer wieder die schönen verflossenen Stunden mit dem Expartner ausmalt. In einer Beziehung wäre es fair, den (vermeintlichen) Lügner nach seiner inneren Wahrheit zu fragen. Was, wenn Bernd aus unserer Geschichte nur um des lieben häuslichen Friedens willen mit seiner Frau nach Paris gefahren wäre und in Gedanken die ganze Zeit mit seiner Geliebten verbracht hätte? Vielleicht hätte eine ehrliche Begründung die Situation für die Geliebte erträglicher gemacht.

Die innere Realität, oder genauer gesagt, unsere inneren Bilder tragen in der Hirnforschung einen eigenen Namen. Man bezeichnet sie als »episodisches Gedächtnis« oder »episodic memory«. Sie bilden einen separaten Teil des Langzeitgedächtnisses und sind stark mit den eigenen Gefühlen und der eigenen Biografie verbunden. Ob Bernd tatsächlich in Gedanken und Gefühlen bei der Geliebten war, wird sich allerdings nicht herausfinden lassen. Und das ist ein Manko der inneren Realität: Sie wird immer unüberprüfbar sein.

Subjektiv aber können die inneren Bilder so stark und bestimmend sein, dass sich der »Lügner« dessen, was er tut, gar nicht richtig bewusst ist. Denn die Inszenierung des Selbst ist auf Konsistenz gerichtet. Das heißt, wir wählen und gestalten unbewusst die Bilder unseres Lebens derart, dass sich daraus eine sinnvolle Lebensgeschichte ergibt. Was nicht passt, wird bei der Gestaltung der inneren Bilder angepasst oder umgedeutet. Das wird in der Psychologie »Verdrängung« genannt. Psychologisch gesehen werden beim Verdrängungsprozess verpönte Wunschregungen oder Erinnerungen an ihrer Bewusstwerdung gehindert. Die Verdrängung kann so weit gehen, dass etwa ein Mann die meiste Zeit seine Geschichte, die er der Geliebten auftischt, selbst glaubt. Und deswegen sind Menschen, die in eine Lebenslüge verstrickt sind, oft sehr überzeugend.

Die Lüge nicht so ernst nehmen

Dem belogenen Partner helfen diese Erklärungen und Erkenntnisse aus Psychologie und Hirnforschung nicht viel. Auch wenn er damit vielleicht die Motive des anderen besser versteht, so ist die Tatsache des Belogenwerdens dennoch kränkend. Die einzige Möglichkeit, damit klarzukommen, ist, die Lüge nicht so ernst zu nehmen, einen Anker in sich zu finden und nicht im anderen, sich selbst als verlässliches Zentrum zu empfinden, das durch das Verhalten des anderen nicht zerbricht. Aus diesem Standpunkt heraus gelingt es vielleicht sogar, die Lüge des anderen als Symptom zu sehen für eine Persönlichkeit, die einfach unsicher und unreif ist, oder für eine Persönlichkeit, welche die tiefen Dimensionen einer Beziehung gar nicht erkennen kann. Und dann stellt sich wie von selbst die Frage: Kann jemand, der – in diesen Punkten – nicht auf meiner Augenhöhe ist, mich überhaupt verletzen?

Die Konsequenz daraus kann bedeuten, dass die Beziehung weitergeht, aber der Rahmen anders definiert wird. In Bezug auf Sibylle zum Beispiel wie folgt: »Mein Freund liebt mich, und wenn wir zusammen sind, verleben wir eine schöne Zeit. Alles andere soll mich nicht kümmern.« Die Konsequenz kann aber genauso bedeuten, die Beziehung zu beenden und einen reiferen Partner zu suchen.

Der heiße Tipp

Wie Sie in einer Partnerschaft am besten mit der Wahrheit umgehen

Wenn Sie Angst haben, den Partner mit der Wahrheit zu verletzen, dann befolgen Sie folgende Ratschläge:

Sprechen Sie zunächst miteinander darüber, wie Sie es mit der Wahrheit handhaben wollen. Bevor Sie sich nun aber umgehend schwören, immer die Wahrheit zu sagen, machen Sie sich zunächst einmal klar, am besten ebenfalls im gemeinsamen Gespräch – was das alles bedeutet. Seien Sie ehrlich zu sich, ob Sie es wirklich ertragen könnten, wenn der andere Ihnen beispielsweise gesteht, eine Affäre zu haben, oder – wie in unserer Geschichte Bernd – gestehen würde, Silvester in Paris, in der Stadt der Liebe, mit seiner Frau verbracht zu haben. Wenn jemand so etwas tatsächlich sagt, müssen Sie mit dieser Wahrheit auch umgehen können: verzeihen, sich trennen … je nachdem, wie Ihr Modell von Wahrheit und das des Partners aussieht.

Sie können sich aber auch darauf einigen, dass Sie sich nicht alles sagen, sondern nur das, was die Beziehung gefährdet. In dem Fall sind ebenfalls einige Spielregeln wichtig. Zum Beispiel sollte, wenn Sex mit einer anderen Person stattfindet, ein Kondom benutzt werden. Außerdem sollte diese Person nicht jemand sein, der dem festen Partner oder der festen Partnerin (etwa beruflich) schaden könnte.

Es gibt auch das Paarmodell, bei dem zwei Menschen sich einigen, sexuelle Freiheit zu tolerieren, aber nicht darüber zu reden, um den anderen nicht zu verletzen. Das Motto »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß« ist eine Variante, mit Lügen, aber auch mit Eifersucht umzugehen. Es gibt natürlich auch differenziertere Herangehensweisen. Eine besondere Regel betrifft zum Beispiel den Besuch eines Swingerclubs (siehe auch Kapitel 10): Hier wird das Vögeln mit anderen in den Club verlegt und ist erlaubt. Außerhalb des Clubs würde es als Ehebruch empfunden und ist verboten. Es geht also darum, einen Weg zu finden zwischen Freiheit und Bindung.

Einen allgemein verbindlichen Ratschlag zu geben ist, was »die Wahrheit« in einer Beziehung betrifft, fast unmöglich. Wir sind der Meinung, dass in einer guten Beziehung die Wahrheit gesagt werden muss. Denn erstens haben Lüge kurze Beine, das heißt, sie kommen irgendwann doch auf. Und zweitens gehört es zu einer guten Beziehung, dass man sich gegenseitig vertraut und der Überzeugung sein kann, der andere belügt mich nicht. Allerdings muss nicht jeder Flirt, jedes Prickeln erzählt werden, sondern nur das, was beziehungsgefährdend ist. Denn zu viel Wahrheit kann den anderen auch überfordern und ganz unnötigerweise verletzen.

Wenn Sie etwas zu gestehen haben, dann versuchen Sie, sich diplomatisch zu äußern. Sie müssen nicht jedes Detail erwähnen. Sie müssen nicht hervorheben, wie ausdauernd und zärtlich Ihre Affäre ist. Sie sollten sich aber generell darüber unterhalten, welchen Stellenwert Sex für Sie einnimmt. Hier gibt es unterschiedliche Auslegungen: Befriedigung eines Grundbedürfnisses, Befriedigung der Neugier, Sex als Vertrauensklebstoff zwischen Partnern, in manchen Fällen Therapie, Sex als notwendige Maßnahme zum Erhalt der Gesundheit, Sex als Ausdruck von Macht, Sex als Selbstbestätigung (ich kriege jede, jeden rum). Eine Person kann in unserem Kulturkreis mehrere Formen davon im Geheimen mit verschiedenen Zielpersonen verwirklichen, ohne ein schlechtes Gefühl dabei zu haben. Sprechen Sie darüber, was Sexualität für Sie und Ihren Partner beziehungsweise Ihre Partnerin bedeutet. Tun Sie das am besten frühzeitig, das heißt in den ersten vier Jahren, bevor die Verliebtheit schwindet. Denn danach werden Sie darüber nicht mehr sprechen können, ohne dass sich der Partner fragt, ob Sie vielleicht einen konkreten Anlass für ein derartiges Gespräch haben. Wenn Sie bereits in einer längeren Beziehung leben, könnten Sie zum Beispiel dieses Buch zum Anlass für ein Gespräch über Sexualität nehmen, Ihrem Liebsten von den verschiedenen Formen berichten und ihn arglos nach seiner Meinung fragen.